Autorin: Suzie Miller / Übersetzung: Katharina Martl / Umfang: 352 Seiten / Gebundenes Leinen / Verlag: Kjona / auch erhältlich bei: geniallokal.de
Triggerwarnung: Sexueller Übergriff, Vergewaltigung
Der Plot…
»Das Gesetz ist dazu da, alle Menschen zu beschützen. Oder?«
Tessa Ensler ist die auffälligste unter den jungen Strafverteidiger:innen Londons. Sie entstammt nicht einer jener angesehenen Familien mit altem Geld. Sie hat sich aus einem Klima häuslicher Gewalt befreit und aus der Arbeiter:innenklasse hochgearbeitet. Heute verteidigt sie unter anderem Männer, die wegen sexueller Übergriffe angeklagt sind. Ihre Art, Zeuginnen – die mutmaßlichen Opfer – ins Kreuzverhör zu nehmen, ist legendär und wird zu ihrer Eintrittskarte in den inneren Kreis der Anwaltskammern. Es scheint, als hätte sie es geschafft. Doch dann passiert etwas, das ihren Glauben an das Gesetz tief erschüttert, und sie entscheidet sich, selbst in den Zeug:innenstand zu treten.
»Der Terminus prima facie (lateinisch für ‚dem ersten Anschein nach‘, ‚auf den ersten Blick‘; wörtlich: ‚mit / bei erstem Gesicht‘) wird im Deutschen in der Bedeutung „bis auf Widerruf“, „solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen“ verwendet. Er sagt nichts darüber aus, ob der äußere Anschein täuscht – also der Schein trügt – oder nicht.«
Mein Resumé…
Es gibt Geschichten, die sind zu wichtig um sie nicht einer breiteren Masse zugänglich zu machen. PRIMA FACIE war bevor es zu einem Roman wurde, in erster Linie ein Theaterstück, aufgeführt in über dreißig Sprachen überall auf der Welt. Zum ersten Mal hörte ich davon durch Social Media, da ich der Schauspielerin Jodie Comer auf Instagram folge. Diese verkörperte nicht nur auf der Bühne Tessa Ensler äußerst erfolgreich (sie gewann den Tony Award), sondern hatte zuvor auch nicht unerheblichen Einfluss auf die Entscheidung Suzie Millers, PRIMA FACIE in Romanform zu pressen.
Im Februar 2024 erschien also die Übersetzung in Deutschland und rüttelte meine »book bubble« mächtig durch. Auch ich nahm mich der Geschichte an und war zunächst zwar angetan, aber auch noch etwas unschlüssig. Ich spürte beim Lesen der ersten Hälfte des Buches, dass dieser Text ursprünglich nicht in Romanform geschrieben worden ist. Fast monoton erzählend nimmt die Figur Tessa Ensler den Leser in verschiedenen Zeitabschnitten durch die Handlung und ihren Alltag als Strafverteidigerin. Dennoch war ich neugierig, denn parallel zum Printformat hörte ich auch das Hörbuch (gelesen von Pegah Ferydoni ). Und dann kam die Faust. Sie verpasste mir Hiebe in den Magen, wie ich es selten erlebe. Wo Tessa zunächst fast sachlich und wenig emotional über ihren Alltag berichtete, wurde ich in einen Strudel aus Schmerz und Taubheit gezogen. Für die Protagonistin beginnt mit der Anklage eine Zerreißprobe und die schwerwiegende Schuldzuweisung an sich selbst.
In PRIMA FACIE zeigt Suzie Miller dem Leser und Zuschauer des Theaterstücks, die Ungerechtigkeit des Rechtssystems auf. Sie beschreibt nicht nur den zutiefst traumatisierenden Gewaltakt der an Tessa Ensler verübt wird, sondern die folgende Scham, die Zerrissenheit und unsäglichen Herausforderungen. Wie schnell ein Opfer zum Lügner gemacht wird, ist dabei regelrecht Ohrenbetäubend. Das wir hier nicht von reiner Fiktion sprechen, ist selbsterklärend. Die Autorin, selbst seit vielen Jahren Strafverteidigerin, traf viele Frauen. Schnell verschwammen all die Erzählungen zu einer. Suzie Miller hält mit PRIMA FACIE der Justiz mit kritischem Blick und unentschuldbar die rote Karte vors Gesicht.
Im Großen und Ganzen…
Suzie Millers bemerkenswerte Erzählung beginnt fast leise, kalkulierend und wenig emotional, nur um zu einem gewaltigen Sturm anzuschwellen. PRIMA FACIE fordert eindringlich und nahezu verzweifelt, die wichtige Aufarbeitung bzw. Abschaffung des patriarchalischen Rechtssystems. Ich hoffe sehr, dass diese Lektüre und das Theaterstück weiterhin nachhallt und vor allem endlich Wirkung an allen Justizeinrichtungen zeigt.
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